Die Kürze des Lebens – De brevitate vitae

Das Lesen des Buches „The 4-Hour Workweek“ von Tim Ferris (Deutsche Ausgabe: „Die 4-Stunden-Woche„) lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine Schrift von Lucius Annaeus Seneca: De brevitate vitae – Die Kürze des Lebens

Ich empfehle jedem die Lektüre dieses Briefes von Seneca an Paulinus. Obwohl schon zw. 48 und 49 n. Christus geschrieben, ist die Schrift immer noch ein aktueller Beitrag zu Debatten über den Sinn des Lebens oder die Work-Life-Balance. Einige Auszüge:

Wir haben nicht wenig Zeit – nur vertan haben wir viel davon. Das Leben ist lang genug und reicht zur Vollendung größter Taten, wenn es als ganzes gut angelegt würde; sobald es aber durch Verschwendung und Achtlosigkeit zerrinnt, sobald es nur für schlechte Zwecke verwendet wird, dann merken wir erst vom äußersten Verhängnis bedrängt, daß es vergangen ist – daß es vergeht, haben wir nicht erkannt. (1, 3)

[…]

Nur einen kleinen Teil des Lebens leben wir. Die ganze übrige Dauer ist ja nicht Leben, sondern bloß Zeit. (2, 2)

[…]

„Wie wir sehen, bist du an die äußerste Grenze des menschlichen Lebens gelangt; hundert Jahre oder mehr lasten auf dir. Nun denn zieh die Bilanz deiner Lebenszeit! Rechne aus, wieviel die Gläubiger, wieviel die Geliebte, wieviel der Patron, wieviel der Klient von dieser Zeit weggenommen hat, wieviel der Streit mit der Gattin, wieviel die Züchtigung der Sklaven, wieviel das geschäftige Umherlaufen in der Stadt; nimm die Krankheiten dazu, die wir uns durch eigene Schuld zugezogen haben, nimm auch noch dazu, was ungenutzt liegengeblieben ist: du wirst sehen, daß du weniger Jahre behältst, als du alt bist. Bring dir in Erinnerung, wann du fest bei einem Entschluß geblieben bist, wie wenige Tage so verlaufen sind, wie du es dir vorgenommen hattest, wann du über dich selbst verfügen konntest, wann dein Gesicht deine natürlichen Züge bewahrte, wann dein Gemüt ohne Angst war, was du in so langer Lebenszeit zustande gebracht hast, wie viele dein Leben ausgeraubt haben, ohne daß du merktest, was dir verloren ging, wieviel grundloser Schwer, törichte Freude, gierige Leidenschaft und tändelnder Umgang weggenommen haben, wie wenig dir von dem, was dir gehört, übrig geblieben ist – du wirst erkennen – du stirbst zu früh“ (3, 2-3)

Was ist nun Schuld daran? Ihr lebt, also ob ihr immer leben würdet, nie kommt euch eure Vergänglichkeit in den Sinn, ihr bemerkt nicht, wieviel Zeit schon vergangen ist; wie wenn ihr sie in Hülle und Fülle hättet, verschwendet ihr sie, während unterdessen vielleicht gerade jener Tag, den ihr irgendeinem Menschen oder irgendeiner Sache widmet, euer letzter ist. Alles fürchtet ihr wie Sterbliche, alles begehrt ihr, wie wenn ihr unsterblich wäret. (3, 4)

Sehr viele wirst du sagen hören: „Vom fünfzigsten Jahr an will ich mich ins ruhige Leben zurückziehen, das sechzigste Jahr wird mich von allen Verpflichtungen entbinden.“ Wen bekommst du denn als Bürgen für ein längeres Leben? Wer wird alles so vonstatten gehen lassen, wie du es bestimmst? Schämst du dich nicht, die Überbleibsel des Lebens für Dich aufzusparen und allein diejenige Zeit für hohe Gedanken vorzusehen, die für nichts anderes zu verwenden ist? Wie spät ist es, erst dann mit dem Leben zu beginnen, wenn man es beenden muss! Was für ein törichtes Vergessen der Sterblichkeit, vernünftige Vorsätze auf das fünfzigste und sechzigste Jahr zu schieben und in einem Alter das Leben anfangen zu wollen, bis zu dem es nur wenige bringen! (3, 5)

[…]

Jeder überstürzt sein Leben und leidet an der Sehnsucht nach dem Kommenden und am Ekel vor dem Gegenwärtigen. (5, 8)

Der hingegen, der jeden Augenblick zu seinem Nutzen verwendet, der jeden Tag so einteilt, als wäre er sein Leben, sehnt sich nicht nach dem folgenden Tag und fürchtet sich nicht davor.(5, 9)

[…]

Mit dem Allerkostbarsten [Anmerk.: gemeint ist die Zeit] treibt man ein Spiel; aber man nimmt es nicht wahr, weil es etwas Unkörperliches ist, weil man es nicht zu Gesicht bekommt; deswegen schätzt man es so gering ein, ja mißt ihm fast keinen Wert bei. (8, 1)

Das Jahresgehalt und Geldspenden nehmen die Menschen sehr gern im Empfang, und dafür verdingen sie ihre Arbeitskraft oder ihre Mühe oder ihre Sorgfalt; niemand schätzt die Zeit; allzu achtlos macht man von ihr Gebrauch, als ob sie nichts kostete. (8, 2)

[…]

Niemand wird dir die Jahre zurückholen, niemand wird dich dir noch einmal wiedergeben; das Leben wird gehen, wie es begonnen hat, und seinen Lauf weder umkehren noch anhalten; es wir keinen Lärm machen, nicht an seine Geschwindigkeit erinnern: lautlos wird es dahinfließen. (8, 5)

[…]

Kann es etwas Törichteres geben als das Denken der Menschen, ich meine jener, die sich ihrer Klugheit rühmen? Allzu mühsam sind sie beschäftigt: auf Kosten ihres Lebens richten sie ihr Leben ein, um besser leben zu können. Sie legen ihre Pläne auf lange Sicht an. Aber der größte Verlust an Leben ist das Aufschieben: es entreißt uns einen Tag nach dem anderen, es bringt uns um das Gegenwärtige, indem es Entferntes verspricht. Das größte Hindernis für das Leben ist die Erwartung, die am Morgen hängt und das Heute vertut. (9, 1)


Kommentare

Eine Antwort zu „Die Kürze des Lebens – De brevitate vitae“

  1. Avatar von Gilbert Dietrich
    Gilbert Dietrich

    Vielen Dank für die Mühe, die Auszüge hier wiederzugeben! Leider ist dieser Text nicht umfänglich im Netz verfügbar, obwohl er doch gemeinfrei sein müsste.

    Interessant ist diese Passage: „Rechne aus, wieviel die Gläubiger, wieviel die Geliebte, wieviel der Patron, wieviel der Klient von dieser Zeit weggenommen hat, wieviel der Streit mit der Gattin, wieviel die Züchtigung der Sklaven, wieviel das geschäftige Umherlaufen in der Stadt; nimm die Krankheiten dazu, die wir uns durch eigene Schuld zugezogen haben, nimm auch noch dazu, was ungenutzt liegengeblieben ist: du wirst sehen, daß du weniger Jahre behältst, als du alt bist…“

    Dem kann man eigentlich aus heutiger Perspektive gar nicht zustimmen. Denn vieles von dem von Seneca beschriebenen „Verschwenden der Zeit“ ist ja heute das, was Sinnhaftigkeit stiftet: Mit dem/der Geliebten Zeit verbringen, Arbeiten, auch Krankheiten und sogar Trauer gehören zu einem kompletten Leben. Wenn man all das abzieht, was Seneca als „Verschwendung“ aufzählt, dann bleibt vom Leben rein gar nichts übrig.

    Warum das so ist, ist klar: Für ihn war das richtige Leben nur das Philosophieren in Muße. Aber das reicht heute nicht einmal mehr einem Philosophen.

    Viele Grüße,

    Gilbert Dietrich